Gottes Spuren auch der Straße
Am 13. Oktober jährte sich der Todestag von Madeleine Delbrêl. Wir haben das zum Anlass genommen, uns von dieser großen Mystikerin des 20. Jahrhunderts inspirieren zu lassen.
Delbrêl wuchs in Frankreich in einem sehr liberalen und atheistischen Umfeld auf. Während ihres Studiums in Paris kam sie durch verschiedene Begegnungen und Umstände mit dem christlichen Glauben in Berührung. Konfrontiert mit den Nöten des Ersten Weltkriegs und den Arbeitsbedingungen im Pariser Vorort Ivry begann sie, nach Spuren Gottes im Alltag zu suchen, und die Liebe, die sie im Gebet spürte, praktisch umzusetzen. Zusammen mit den Kommunisten in Ivry setzte sie sich für soziale Gerechtigkeit ein. In einer Umgebung, in der „viele Menschen vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben“, sah sie den Mehrwert und das Heilsame im Evangelium. Die Haltung, mit der sie das Evangelium verkünden und leben wollte, hat auch uns heute viel zu sagen:
„Wir kommen nicht, um großmütig etwas mitzuteilen, was uns gehört, nämlich Gott. Wir treten nicht wie Gerechte unter die Sünder, wie Leute, die ein Diplom erlangt haben, unter Ungebildete. Wir kommen, um von einem gemeinsamen Vater zu reden, den die einen kennen, die anderen nicht, wie solche, denen vergeben worden ist“ (aus: Christ in der Gegenwart, 12. Oktober 2014).
Sie verstand es als Geschenk und Auftrag zugleich, als Individuum eine kleine Zelle von Kirche zu sein und damit ein Verbindungsglied zwischen den Menschen und Gott. Ganz unmittelbar war für sie die Nähe Gottes spürbar:
„Weil deine Augen in den unseren erwachen, ist [dieses Café] nun kein profaner Ort mehr … Wir wissen, dass wir durch dich ein Scharnier aus Fleisch geworden sind, ein Scharnier der Gnade, die diesen Fleck Erde dazu bringt, sich […] dem Vater allen Lebens zuzuwenden, in uns vollzieht sich das Sakrament deiner Liebe“ (Oeuvres Completes III 65).
Diese Haltung von Madeleine Delbrêl fasziniert uns: Jeder Ort und jeder Mensch hat etwas Göttliches in sich und es liegt an uns, dieses Heilige zu entdecken und ans Licht zu bringen. Mit dieser Sensibilität für sein Erwachen in uns wird jeder Ort zu heiligem Boden, wird das Café, die Straße zu einem Ort der Begegnung mit Gott.
Im Alltag „Scharnier der Gnade“ sein. Wir finden, ein ziemlich großer Schuh, mit dem wir zu laufen versuchen. Kleine Schritte sind ein Anfang. Stolpern und Aufstehen gehören dazu …
Madeleine Delbrêls Rat für diesen Weg fordert heraus und spornt an:
„Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne Plan von Gott, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens“ (aus: Christ in der Gegenwart, 12. Oktober 2014).
Claus Herting und Tobias Gutmann, Heidelberg
Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren übernommen aus: “Überbrücken”, Brief der Katholischen Stadtkirche Heidelberg.
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