Wirkung der Arbeit mit der Schriftrolle

Was die Arbeit mit einer Schriftrolle bewirken kann

Bernhard J. Schmid
Pfarrer in Eislingen/Fils, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Wie kann man eine kirchliche Gruppe oder ein Gremium am schnellsten zum Verstummen bringen? – So frage ich mich manchmal mit ironischem Unterton. Ganz einfach – indem man unvermittelt die Frage stellt: „Wo hast Du Gott erfahren?“ Dann wird es gewiss still – betretenes Schweigen. Ausnahmen sind vielleicht Gruppen, die sehr vertraut miteinander sind, die in sich sehr homogen sind, die eine explizite Ausrichtung auf geistlichen Austausch haben. Aber viele Gruppen und Gremien in unseren Gemeinden sind nicht so. Sie haben schon von vornherein eine andere Ausrichtung. Dazu gehören insbesondere auch die Gremien, die sich vor allem von ihren Aufgaben her definieren, wie die Kirchen- oder Pfarrgemeinderäte. Wie ist es möglich, dass die konkrete Arbeit in einem solchen Gremium von einer geistlichen Grundhaltung geprägt ist?

Im Spannungsfeld von geistlichem Anspruch und harter Realität

Dabei erlebe ich bei vielen Mitgliedern unserer Gremien und Räte durchaus ein geistliches und pastorales Interesse. Dieses kommt oft dann in Krise, wenn die administrativen Aufgaben (wie Struktur-, Finanz- und Baufragen) so überhandnehmen, dass für die pastoralen Fragestellungen kaum mehr Zeit und Raum bleibt. Da die „harten“ anstehenden Aufgaben und Entscheidungen aus dem administrativen Bereich oft eine so große Eigendynamik haben und so viel Zeit beanspruchen, besteht immer wieder die Gefahr, dass die pastoralen Themen an den Rand gedrängt werden.
Wie können die geistliche Grundlegung und die pastorale Ausrichtung erhalten bleiben und gestärkt werden? Die Lösung in vielen Gremien auf allen kirchlichen Ebenen erlebe ich oft so: Es gibt ein Gebet oder einen geistlichen Impuls am Anfang der Sitzung, oft mit viel Leidenschaft vorbereitet und vorgetragen. Im besten Fall nehmen die Mitglieder für sich mit: „Ein schöner Gedanke, eine gute Anregung…!“ Dann kommt aber zumeist das überleitende „So – …“ der Leitung. Und es geht weiter mit den „eigentlichen“ Themen und Tagesordnungspunkten, die oft zu dem vorgetragenen Impuls wenig Bezug haben.

Schriftrolle statt „geistlichem Impuls“

Anstelle des „geistlichen Impulses“, öffnen wir seit einigen Jahren unsere Schriftrolle. Dort schreiben wir kontinuierlich Ereignisse, Erfahrungen und damit verbundene Stimmungen und Wahrnehmungen auf. (Zur konkreten Vorgehensweise: Siehe im Menüpunkt „Handlungsfelder“) Im Hintergrund steht der Gedanke: Wir brauchen keinen „geistlichen Prozess“ zu machen. Denn der Geist Gottes ist schon immer am Werk und will uns durch genau durch diese Ereignisse und Erfahrungen in seinen „Prozess“ einbeziehen. Was geschieht bereits durch den einfachen Vorgang des Aufschreibens und Lesens der Schriftrolle? Im Lauf der Zeit ist mir aufgegangen, dass allein schon dadurch etwas außerordentlich Vielschichtiges in Gang kommt:

Die thematisch-sachorientierte Sicht wird ergänzt um eine geschichtliche.

Ich meine, diese Vorgehensweise steht uns in jüdisch-christlicher Tradition gut an. Erstaunlich ist doch, dass das Grundlagenbuch unseres Glaubens, die Bibel, in der weit überwiegenden Mehrzahl erzählende Texte enthält. Die Entwicklung des Glaubens und der Kirche geschah nie (nur) aus systematischen Überlegungen heraus, sondern diese waren immer Folge einer erlebten Geschichte, die als Heilsgeschichte, als Geschichte Gottes mit den Menschen verstanden wurde. Ganz praktisch erlebe ich das auch in unserer Arbeit: Manchmal kommen rein thematische Überlegungen und Diskussionen – so wichtig sie sind – an Grenzen, da sie manche Spannungen nicht auflösen können oder in der Gefahr stehen, sich von der konkreten Realität zu entfernen. Wenn wir aber konkret betrachten: „Was geschieht?“, dann werden alle Überlegungen an die Realität zurückgebunden und es zeigen sich manchmal konkrete Ansatzpunkte. Natürlich braucht es zur Deutung dann auch wieder (systematische) Kriterien. Das ist die Vorgehensweise der frühen Kirche in der Apostelgeschichte. Z.B.: Eine konkrete Erfahrung wird gemacht: – ‚Heiden interessieren sich für Jesus Christus‘ – Es erfolgt eine theologische Deutung: – ‚Gott hat den Heiden die Tür zum Glauben geöffnet!‘ (vgl. Apg 14,27) – Daraus werden dann Schlüsse für eine neue Praxis gezogen (Apg 15,6-21). Ausgangspunkt ist die konkret erlebte Geschichte und die Erfahrung von Gottes Handeln darin.

Die Wahrnehmung wird verstärkt.

Nicht nur im allgemeinen gesellschaftlichen Leben gehen Entwicklungen immer schneller. Auch in kirchlichen Zusammenhängen jagt oft eine Aktion die nächste. Die kontinuierliche Arbeit mit der Schriftrolle regt an, immer wieder innezuhalten, die Ereignisse „nachzuverkosten“, d.h. sie in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Dazu gehört auch, der „Innenseite“ der Vorgänge immer wieder auf die Spur zu kommen: Was geschieht dadurch in den Menschen? Wo können wir in dem Geschehenen den handelnden Gott erahnen?

Es geschieht große Wertschätzung.

In den Anfängen unserer Arbeit mit der Schriftrolle, hatte ich zunächst immer wieder die Frage: Kommen wir mit dem Erzählen von diesem oder jenem wirklich in einen geistlichen Prozess? Beim einen oder anderen, was da in der Runde genannt wurde, dachte ich: Das ist doch zu einfach, zu klein, zu banal… Inzwischen denke ich da anders: Vorausgesetzt, es ist jemand in der Runde „vom Herzen her“ wichtig, das zu nennen, dann hat das seinen Platz auf der Schriftrolle. Manchmal sind es die kleinen, einfachen Dinge, die ein geistliches Potential enthalten. Oft zeigt sich das erst im Nachhinein und im Zusammenhang mit anderen Vorgängen. Dadurch, dass es auch solche kleinen Dinge wert sind, auf der Schriftrolle festgehalten zu werden, geschieht eine unglaubliche Wertschätzung des konkreten Vorganges, der beteiligten Personen und des Menschen, der das einbringt. Das trägt bei zu dieser wichtigen Grundhaltung, die eine wesentliche Voraussetzung für pastorale Arbeit ist: Ich nehme wahr, was dir wichtig ist!

Die Frage nach Gott beginnt mitten im Leben und in der konkreten Erfahrung.

Auch das habe ich durch die Arbeit mit der Schriftrolle gelernt: Auch wenn das Ziel ist, dem Handeln Gottes auf die Spur zu kommen, es ist doch in der praktischen Vorgehensweise nicht die erste Frage. Die erste Frage ist ganz einfach: „Was ist: Was ist geschehen und was hat das in dir oder anderen bewegt?“ Viele Menschen in unseren Breiten reagieren mit Rückzug oder Irritation, wenn wir sofort fragen: „Wo hast du Gott erlebt?“ So fällt man mit der Tür ins Haus. In den meisten Fällen ist es auf Anhieb gar nicht so leicht, das zu fassen und dann auch noch ins Wort zu bringen. Denn Gott ist immer unfassbar und viele Vorgänge sind vielschichtig und mehrdeutig. Ich lerne von der Pädagogik des Auferstandenen, der mit den Jüngern nach Emmaus geht. Seine erste Frage an die Jünger ist nicht: „Wie deutet ihr das Geschehene theologisch?“ Sondern er fragt ganz schlicht: „Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet?“ (Lk 24,17) Dahinter steht ganz einfach die Frage: Was ist geschehen? Was bewegt Euch? Das ist der Ausgangspunkt für alles weitere. Um zu dieser Frage etwas sagen zu können, braucht niemand Theologie studiert zu haben oder spezielle Kompetenzen im geistlichen Austausch. Alle in einer Gruppe oder einem Gremium können sich da beteiligen.

Es bewahrt vor dem Abheben.

Wenn wir in unserem Kirchengemeinderat zu Beginn jeder Sitzung auf die Schriftrolle schreiben, dann legen wir sie auf den Boden und rollen sie dort aus. Das hat zunächst ganz praktische Gründe: So ist es leichter, einen größeren Bereich zu überblicken und man braucht nicht eigens eine lange Reihe an Tischen aufzustellen oder freizumachen. Manchmal kommt mir jedoch auch der Gedanke: Das sind auch die Dinge, die wir da im ersten Schritt aufschreiben: Die sind alle sehr „bodenständig“. Alles steht auf dem „Boden der Tatsachen“. Nichts, was von außen oder oben aufgedrängt wäre, auch keine Theorien oder mystischen Spekulationen. Alles ist wirklich ganz „das Unsere“. Auch wenn in den weiteren Schritten da und dort Deutungen hinzukommen, Zusammenhänge entdeckt und Schlüsse gezogen werden – die realen, ursprünglichen Erfahrungen, aus denen diese Überlegungen hervorkommen, bleiben immer sichtbar. Das bewahrt vor abgehobenen, lebensfremden Spiritualisierungen.

Gott hat viele Namen.

Die eingangs erwähnte Scheu vieler, über das konkrete Handeln Gottes hier und heute zu sprechen, hat viele Gründe: Es ist ungewohnt, die richtigen Worte fehlen, es soll nicht frömmlerisch klingen, es kann bedrängend wirken, wenn jemand sagt: „Das tut Gott, das will Gott!“ … Als wichtigen und hilfreichen „Zwischenschritt“, erlebe ich die Vorgehensweise, nicht gleich von Gottes Handeln zu sprechen, sondern zunächst einmal nach bestimmten „Qualitäten“ in den Ereignissen und Vorgängen Ausschau zu halten, z.B.: Wo hat etwas mein Herz berührt? Wo wird etwas weiter, anstatt in zu verengen? Wo wächst Leben? Wo entsteht ein „Mehr“ an Gemeinschaft und Beziehung? … Eines Tages wurden wir darauf aufmerksam, dass wir beim Reflektieren der Ereignisse auf unserer Schriftrolle immer wieder den Begriff gebraucht haben. „Das war etwas Besonderes!“ Irgendwann kam der Gedanke: Könnte diese Erfahrung vielleicht wie eine Chiffre für Gottes Handeln im Hintergrund sein? Vielleicht verbirgt und zeigt er sich zugleich genau in solchen Erfahrungen? Vielleicht ist das einer der vielen Namen Gottes, einer der gerade unserer „säkularen“ Zeit angemessen ist?

Gottes Handeln beim Namen zu nennen, braucht nicht immer Worte.

Die Eintragungen auf unserer Schriftrolle machen manche Vorgänge sichtbar, anschaubar. Genau damit lässt sich gut arbeiten: Die Dinge können vertieft und gedeutet werden. Manchmal im gemeinsamen Gespräch, indem die Dinge ins Wort gebracht werden. Aber auch Zeichen und Zeichenhandlungen haben ihren Platz: Wenn der entsprechende Rahmen da ist, dann ist es z.B. eine Möglichkeit einzuladen: „Stell ein Licht an die Stelle der Schriftrolle, wo du das Handeln Gottes spürst (Wo das Feuer des Geistes leuchtet… Wo der Dornbusch brennt….) Das braucht keine Worte, aber doch wird für alle in der Runde etwas von der Gegenwart und dem Handeln Gottes sichtbar. Andere Bilder oder Zeichen können sein: Das Bild von der „Hand Gottes“ an die Stellen legen; mit einem Bild des Auferstandenen seine Präsenz markieren…

In konkreten Erfahrungen zeigt sich die Wegweisung für die Zukunft.

In Eislingen gab es bis zum Jahr 2014 zwei Kirchengemeinden, die eine wechselvolle Geschichte miteinander hatten, auch mit Rivalitäten und Irritationen. In der konkreten Zusammenarbeit in einer Seelsorgeeinheit zeigte sich jedoch immer mehr, dass die bislang getrennten Wege zusammenlaufen. Das wurde besonders durch die Schriftrollen der beiden Gemeinden sichtbar. Das Gemeinsame wuchs stetig, so dass es schließlich schwierig war, sie noch auseinanderzuhalten. So wuchs aus dem geistlichen Prozess mit den Schriftrollen langsam aber sicher die Entscheidung, die Gemeinden zu einer zu vereinigen. Ein Beispiel wie aus einem geistlichen Prozess auch sehr konkrete strukturelle Entscheidungen wachsen können.

 


Fotos: Bernhard J. Schmid

 

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