Von Lissabon bis Corona und zurück

Zerstörung Lissabon 1755 – Foto: wikimedia commons

Nach vier Folgen zu Gott und Corona:
Über einen Artikel der FAZ zu demselben Thema

Es geschah während der Allerheiligengottesdienste. In dreißig Kirchen Lissabons. Um 9.40 h begann ein Todestanz der Erde. In fünf Minuten hatten die einstürzenden Kirchen die Gläubigen unter sich begraben. Das Stadtzentrum war eine Steinwüste. Feuer brachen aus und brannten die Holzhäuser nieder. Die Nichtverschütteten retteten sich in den Hafen. Doch nach 30 Minuten überrollte eine viele Meter hohe Tsunami-Welle das Ufer und riss auch sie in den Tod. Zigtausende der Einwohner Lissabons waren tot.   

Ganz Europa war entsetzt. Goethe, damals sechs Jahre alt, wird später darüber schreiben:

„Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, aber durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür…..
Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen …
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“

(Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit)

Ein Tsunami des Zweifels überrollte das christliche Europa:

„Wie kann ein allmächtiger, gütiger Gott so etwas zulassen? Warum ausgerechnet an Allerheiligen? Warum trifft die Strafe Sodoms und Gomorrhas ausgerechnet die Hauptstadt eines so frommen Landes, dessen Missionare den Samen des Evangeliums auf der ganzen Welt säen? Und warum sinken Lissabons Kathedralen in Schutt und Asche, während das berüchtigte Vergnügungsviertel im Stadtteil Alfama mit seinen Bordellen und Räuberhöhlen auf wundersame Weise verschont bleibt?“      (Josef Nyary)

Das Erdbeben von Lissabon wirkte weiter als Geistes- und Glaubensbeben – bis heute. Der Aufklärungsoptimismus war tief erschüttert. Noch ein halbes Jahrhundert vorher hatte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) als vernunftnotwendig erklärt: Da Gott allmächtig, allwissend und allgütig ist, musste er „die beste aller möglichen Welten“ erschaffen. Manches Gute – wie etwa die menschliche Freiheit – ist aber nur zum Preis der Existenz von Übel zu haben.“ Diese „Rechtfertigung Gottes“, „Theodizee“ genannt, kommentiert Voltaire mit Blick auf Lissabon sarkastisch: „Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?“

„Tut mir leid, es ging leider nicht besser“, lässt Jörg Herrmann Gott erwidern in einem Artikel der FAZ vom 15. 07. 2020: „Mitleidende Kooperation: …Mit dem Virus kehrt die Theodizeefrage zurück.“ Herrmann ist Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Hamburg. Der folgende Text gibt die wichtigsten Gedanken wieder.

Theodor Adorno (1903-1969) zog eine Linie von Lissabon zum Holocaust: Beide Katastrophen seien so groß gewesen, dass sie die europäische Kultur und Philosophie transformiert hätten.

Hans Jonas (1903-1993), wie Adorno Jude und vor dem NS-Regime ins Exil geflohen, suchte eine Antwort auf den „längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott“ in Auschwitz. Er stellte die überlieferte Gottesvorstellung infrage. Gott könne nicht drei Eigenschaften zugleich haben: allmächtig, allgütig und verstehbar. Ein gütiger Gott angesichts solcher Übel könne nicht allmächtig sein und nicht der Herr der Geschichte. Hatte Hiob noch die Machtfülle des Schöpfers gepriesen, müsse man jetzt von Gottes „Machtentsagung“ sprechen. In Hiob habe Gott selbst gelitten.

Das wurde zum zentralen Motiv bei der evangelischen Theologin Dorothee Sölle:

Das „Mitleiden Gottes“. Aber „es ist nicht das Mitleiden eines nur ohnmächtigen Gottes. Sölle kann auch von der Macht Gottes sprechen – nicht jedoch im Sinne einer autonomen Herrschermacht, sondern als Macht in Beziehung. Sölle denkt Gott und Mensch in Beziehung. Wir brauchen die gute Schöpfungsmacht Gottes, aber er braucht auch uns. Denn, so eine bekannte Formulierung der Hamburger Theologin: ‚Gott hat nur unsere Hände.‘ Was aus dieser Welt wird, hängt nicht zuletzt von uns Menschen ab.“

Harold Herrmann gibt auch dem amerikanischen Rabbiner Kushner (*1935) das Wort. Als dessen Sohn Aaron vierzehnjährig starb, suchte er nach einer Antwort, „die es mir möglich machte, weiter zu glauben.“ Gott ist nicht allmächtig. Er ist nicht verantwortlich für Terroranschläge, Tsunamis, Krebs oder tödliche Unfälle. Es gibt keinen strafenden Gott am Mischpult der Weltgeschichte. Es gibt aber einen mitleidenden Gott. Für Kushner ist er die Kraft, die uns helfen kann, dennoch weiterzuleben.“

Herrmann zitiert den katholischen Theologe Georg Langenhorst:

„Der biblische Hiob steht nicht für eine Antwort auf die Frage, warum es Leid gibt in der Welt. Oder wie Gott all das unfassbare Übel zulassen kann. Er steht für etwas anderes: Für das existentielle Durchtragen von unverstehbar bleibendem Leid in Duldsamkeit und Rebellion, für das vertrauensvolle Festhalten an Gott auch und gerade im Zweifel und in der Klage.“

Im Unterschied zu Jonas wird hier die Verstehbarkeit Gottes infrage gestellt. Das nähert sich auch dem Schrei Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dazu Herrmann:

„Anders als bei Hiob bleibt die Passion Jesu nicht ohne Antwort. Es ist eine doppelte Antwort. Im Blick auf die Gegenwart sagt die Passionsgeschichte: Gott leidet mit uns. Er ist in den Leidenden gegenwärtig. Aber nicht nur das. Er überwindet das Leiden. Dafür steht die Auferstehung. Sie ist die entscheidende Antwort des Christentums auf die Frage nach dem unschuldigen Leiden. Eine Antwort, die die Antwort in die geglaubte Zukunft verlegt.“

Der hier vorgestellte Artikel der FAZ endet mit den Worten:

„Gottesrede in Zeiten der Pandemie ist eine Herausforderung. Sie bewegt sich zwischen der Erschütterung traditioneller Gottesbilder durch die abgründigen Erfahrungen unschuldigen Leidens und dem Mut, an dem Dennoch des christlichen Glaubens im Horizont der Auferstehungshoffnung festzuhalten. So ähnlich beschreibt auch Harold Kushner seinen jüdischen Glauben nach dem Abschied von der Vorstellung eines allmächtigen Gottes: als einen Glauben an die Kraft, die uns helfen kann, dennoch weiterzuleben.“

Kurt Faulhaber


Bilder: Leibniz – wikimedia commons; Hans Jonas – www.hansjonasinstitut.de,  Dorothee Sölle – wikimedia commons, Kushner – Facebook

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