24 Vertiefungstexte – Deuten

Leite um ein Lagerfeuer versammeltFoto: pixabay.com

24 Deuten – Schritt 24

Das Zweite Vatikanische Konzil beschreibt, wie das Deuten der Zeichen der Zeit geschieht. Wir wollen das mit unseren Gemeinden, ihren Gruppen und Gremien lernen und einüben.(1)

Wer deutet? (2)
Die Gemeinschaft der Glaubenden ist es, die dem Wirken Gottes in der Welt nachgeht. Das Konzil hat hier etwas Neues und noch wenig Rezipiertes angestoßen:
– Nicht wie bisher wird hier das Lehramt als Deute-Instanz genannt, sondern das Volk Gottes.
– Aber nicht die Glaubensgemeinschaft für sich allein, sondern mit dem Reichtum der Erfahrungen, die sie „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt“. (Gaudium et spes 11)
– Nicht von der Bibel allein her zeigt sich, was Gott möchte, sondern „im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrung“ (GS 46). (3)

prophetisches Deuten (4)
Gott ist in allem und ständig am Werk. Sein Handeln hier deutet sein Handeln dort. Sein Handeln gestern deutet sein Handeln heute und beides seine Absichten für morgen. (5) Unser Deuten ist ein Nachtasten seines Wirkens mit einem auf sein Wort und aufeinander hörenden Herzen.(6)

Was sollen wir tun?
Das war die erste Frage der ersten Christen am Pfingsttag auf der Schwelle zur Kirche. Die Worte des Petrus hatten sie „mitten ins Herz“ getroffen und sie fragten sogleich die Apostel „Was sollen wir tun, Brüder?“ (Apg 2,37)
Das Deuten der Zeichen der Zeit ist kein Selbstzweck, sondern hat als Ziel, auf die „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ der Menschen (auch außerhalb der Gemeinde!) zu antworten im Handeln und dadurch das Werk Christi weiterzuführen.(7)

zu 1:

Ein Handeln der Kirche, das sich vom Geist durch die Zeichen der Zeit leiten lässt, hat drei Grundvoraussetzungen zu berücksichtigen:
„a) Die Interpretation der Zeichen der Zeit soll gemeinschaftlich und
b) im Lichte des Evangeliums geschehen und
c) zur Praxis vordringen.“ (R Ruggieri, Zeichen der Zeit, 65; in: Amor ZKTh S. 35)

zu 2:

Amor: Mit den Worten des Konzils „Das Volk Gottes bemüht sich“ (Gaudium et spes 11) stellt das Deuten der Zeichen der Zeit keine „diskursive Einbahnstraße (dar), deren Logik sich noch nicht vom Schema einer lehrenden Kirche bzw. einer hörenden Welt gelöst hat: Menschen fragen und die Kirche antwortet.“ (C. Bauer, Zeichen der Zeit? zitiert von Amor ZKTh S. 36)
Mit dem Verb „bemüht sich“ klingt „erstens an, dass die korrekte Deutung und Unterscheidung der Zeitphänomene mühsam und beschwerlich ist. An die Stelle einer souverän lehrenden Kirche (ecclesia docens) tritt hier das Bild einer Glaubensgemeinschaft, die mit der Unterscheidung der Geister mitunter ihre liebe Not hat. Bedenkenswert erscheint zweitens, dass das ganze Volk Gottes (populus Dei) Subjekt und Träger dieser im wahrsten Sinn des Wortes kritischen Tätigkeit ist. Einer Tätigkeit, die drittens, wie GAUDIUM ET SPES 46,1 ausführt, >im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrung< zu erfolgen hat. An dieser allgemein-menschlichen Erfahrung hat die Kirche mit den übrigen Menschen ihrer Zeit Anteil (vgl. GAUDIUM ET SPES 11). In Verbindung mit dem berühmten ersten Satz von GAUDIUM ET SPES 1 >folgt< daraus viertens: Pastoral hat vom Menschen, genauer von allen Menschen her begriffen und konzipiert zu werden. Das wiederum bringt fünftens mit sich, >dass die eigene Sprache über das Evangelium sich von diesen Adressaten her verändert. Sie sind nicht mehr einfach die Hörerinnen und Hörer des Wortes der Kirche, sondern Kristallisationskerne einer Sprache, die diese Kirche selbst über das eigene Wort erst finden muss.< (H.-J. Sander, Die Zeichen der Zeit erkennen und Gott benennen. Der semiotische Charakter von Theologie: ThQ 182, 34)“    (Amor, ZKTh, 36)

zu 3:

Das Zusammenspiel von Evangelium und menschlicher Erfahrung wird mit großer Sensibilität gehandhabt in der „theopoietischen Seelsorge“ (Peter Hundertmark/Martina Patenge). Sie „pendelt deshalb immer zwischen zwei grundlegenden Haltungen: Sie ist abwechselnd „kontemplativ“ und „deiktisch“.

„In dieser kontemplativen Phase „steigt“ der(die) Seelsorger(in) so unvoreingenommen wie möglich „in“ die Lebenserzählung „hinein“ und sucht sie zusammen mit Hilfe des(der) Gesprächspartner(in) zu erkunden. Zusammen wenden sie sich Gottes Gegenwart und Wirken im konkreten Erleben und Handeln zu. Der(die) Seelsorger(in) verzichtet in diesem ersten Schritt auf jegliche Deutungen oder Bewertungen. Es geht ganz und nur darum, den(die) Gesprächspartner(in) aus ihrer eigenen Erzählung heraus zu verstehen.“ „Gott muss in diesem ersten Schritt nicht ausdrücklich benannt werden. Seelsorge wird nicht durch religiöse Vokabeln zur Seelsorge.“

„Je nach Situation – die Theologen nennen das Kairos – je nachdem ob der(die) Gesprächspartner(in) offen genug ist und ob der(die) Seelsorger(in) einen Zugang findet, erfolgt ein zweiter Schritt mit einer anderen, ergänzenden Haltung: Der(die) theopoietische Seelsorger(in) beginnt den Gott der biblischen Tradition nun mit Worten zu nennen. Er(sie) zeigt auf Gott in seinen Wirkungen und gibt Gott im erzählten alltäglichen Geschehen Stimme und Wort. Dies geschieht „hinweisend“: Gott wird aus einer vorsichtigen Distanz heraus gezeigt, quasi vom Rand her. Das aus dem Griechischen gebildete Wort ‚deiktisch‘ – ‚zeigend‘, abgeleitet von ‚Deiktis‘=Zeigefinger – soll diesen tastenden Versuch beschreiben, Gott zu benennen.“

„Im Moment entsteht gemeinsam und aus dem Gespräch heraus ein profilierter Glaubens-Vorschlag. Dabei kommt es einerseits unbedingt darauf an, formelhaft-theologische Redeweise zu vermeiden und unter gar keinen Umständen ‚fertige‘ religiöse Deutungen auf die Erlebnisse ‚aufzukleben‘. Andererseits ist die deiktische Rede dem biblisch-christlichen Gott und damit Tradition und Theologie verpflichtet. Diese Spannung zu halten ist eine eigene seelsorgerische Kunst.“

„Das Bildwort von der Collage kann helfen, die Rolle der theopoietischen Seelsorger(innen) zu beschreiben: Collage-Künstler(innen) fügen verschiedenartige, teils vorgefundene, teils neu hergestellte Elemente zusammen. Aus dem vorher Unverbundenen wird auf einmal ein beziehungsreiches Ganzes. Theoipoetische Seelsorger(innen) arbeiten in der Weise der Collage: sie fügen kreativ das „fremde“, Gott-zeigende Element dem erzählten Leben ihrer(ihres) Gesprächspartner(in) hinzu. Wie in einer Collage kann aus der Wechselwirkung von Lebenserzählung, neuem Verstehen und Deutung ein anderer Sinn entstehen. Dieser ist einmalig, unverfügbar, kostbar. Indem sie auf eine Lebenserzählung trifft, macht die Erzählung des Evangeliums Sinn – oder auch nicht.“

„Dabei ist die Sprache entscheidend, in der das Wort Gottes gesagt wird. Seelsorger(innen) sollten sich nahe an den Erfahrungen und an der Lebenserzählung der Menschen orientieren, situativ und kreativ versuchen, das Evangelium jetzt zu sagen, auf Gottes Wirken in diesem Leben hinzuzeigen.“

„Sie ist kardiognostisch – herzwissend, mit dem Herz wissend, um das Herz des anderen wissend.“

zu 4:

In einem Gespräch- wir waren Theologiestudenten aus München – am 27. 4. 1967 berichteten wir Pater Kentenich von Hermann Seifermann am Katechetischen Institut in München und wie viele Zusammenhänge mit dem Alten Testament wir als Schönstätter bei ihm entdeckten. Pater Kentenich wollte das genauer wissen. Ich (Kurt Faulhaber) sagte etwas Folgendes: Bei Ereignissen – meist durch Wechselwrikung mit der heidnischen Umwelt -, und neuen Verhältnissen suchte man in Israel nach Ansätzen, Ähnlichkeiten und Zusammenhängen in der bisherigen Geschichte mit Gott. Von ihnen her deutet man das neue Geschehen als Weiterführung des früheren Handelns Gottes. Das führte dazu, dass man einerseits die gegenwärtige (profane) Geschichte als Handeln Gottes verstand und andererseits vom früheren Handeln Gottes in neuer und erweiterter Weise sprach. So geschah eine Weiterentwicklung der Offenbarung.
Als ich geendet hatte, bat Pater Kentenich: Können Sie das wiederholen? Ich tat es. Daraufhin sagte er: So bin ich in Schönstatt vorgegangen, ohne um diese Dinge im Alten Testament zu wissen. Und er fügte hinzu: Wenn Sie das begriffen haben, können Sie Prophet in der Familie sein.

zu 5:

Für Kessler ist das ausschlaggebende Moment einer Handlung deren Intention. „Denn sie erst leistet die Verbindung der verschiedenen Phasen einer Handlung und ermöglicht es, diese als Einheit zu verstehen. Die auf das Handlungsziel gerichtete Intention umfasst also den ganzen dahin führenden Weg der Handlung (Handlungsvorsatz, Mittel) mit; sie schafft den Handlungsbogen.“ (287)
„Die Intention des Handelns Gottes ist auf der Stufe des Schöpfungshandelns vom Wesen der Sache her noch völlig verhüllt.“ (291) Dass Gott die Welt aus Liebe geschaffen hat, kann erst im Verlauf des Handlungsbogens zum Vorschein kommen. Gottes Intentionen treten erst im Laufe seiner Geschichte mit uns in Erscheinung. „Von Stufe zu Stufe wird das Handeln Gottes immer voraussetzungsreicher und komplexer“ (291): „in der Menschheits- und Religionsgeschichte, besonders in der Geschichte Israels, das sich rigoros von daher versteht… In einzigartiger Konzentration und Definitivität begegnet solches durch menschliche Akteure … vermitteltes Gnaden- und Heilshandeln Gottes dann in der Gestalt und Geschichte Jesu von Nazareth.“ (295)

zu 6:

Welche Kompetenzen braucht es, um die Zeichen der Zeit zu deuten? Kentenich unterscheidet ein intuitives und ein lernbares Vorgehen und gibt drei Methoden an, sich diese Kompetenz anzueignen:

„Wer eine psychologische Nase hat, ist von Hause aus mit einem eigenartigen Witterungssinn ausgestattet, der jede Schwankung im Lebensgefüge und Lebensgefühl einer Zeit wahrheitsgetreu signalisiert, in sich aufnimmt und verarbeitet und dem philosophisch und theologisch geschulten Verstand zur näheren Verarbeitung überweist. Wer so veranlagt ist, braucht keine besondere Methode und Schulung. Er greift ohnehin richtig. …

Es sind hier vor allem 2 oder 3 Mittel, die wir ohne sonderliche Anstrengung anwenden können.

Das erste (Mittel) besteht in der sorgfältigen und stetigen Anwendung der von uns bevorzugten Betrachtungsmethode: im Nachprüfen und Nachkosten, im Vorprüfen und Vorkosten der göttlichen Erbarmungen und der persönlichen Erbärmlichkeiten in unserem Leben. Wenn solche Durchsichtigmachung des Göttlichen in der kleinen persönlichen Lebensgeschichte zur zweiten Natur geworden ist, dann fällt es nicht schwer, auch das gesamte Zeitgeschehen in ähnlicher Perspektive zu sehen und zu deuten.

Ein zweites Mittel besteht im inneren Erfassen charakteristischer Aussprüche, die urplötzlich wie Leuchtkugeln aufsprühen und weiteste Kreise der Zeitenlage belichten… Die Zeit gibt Ansatzpunkte, läßt Leuchtkugeln aufsteigen, von denen aus wir wieder und wieder das Gelände um uns herum richtig sehen und deuten lernen.

Man sage nicht, das ist eine Kunst, die man nicht lernen kann. Ich möchte demgegenüber behaupten: führt man selber ein Innenleben, wendet man die oben genannte Betrachtungsmethode getreulich an, leitet man die Seelen, so wie wir das kurz angedeutet haben, bemüht man sich um eine philosophische Zusammenschau letzter Wahrheiten und Wirklichkeiten und um standhafte Beheimatung darin, ringt man gleichzeitig um inneres Gelöstsein von sich und Geöffnetsein für fremde Art und Unart, für fremde Not und fremdes Ringen, so bekommt man früher oder später eine Gewandtheit, wie das auf allen psychologischen Gebieten zu konstatieren ist … Kommt eine tiefe Liebe zum Gegenüber hinzu, so ist die rätselhafte Kunst schnell gelernt.

Als drittes Mittel nenne ich das Studium der Bücher, die in ihrer Art sich die Aufgabe gestellt haben, die Zeit verständlich zu machen.
Hierher gehört mehr oder weniger auch die Fühlungnahme mit dem Volke, vor allem mit der Dauergefolgschaft, für die man Verantwortung trägt.
Andere werden uns sagen: Lesung von Zeitromanen oder Benutzung von Film und Television sind heute unumgängliche Mittel, um die Menschen verstehen zu lernen. Ich persönlich habe mich jahrzehntelang um diese Art von Mitteln nicht bemüht; habe sie im Gegenteil sorgfältig vermieden und so Zeit und Kraft gewonnen, um Denken und Fühlen, Lieben und Leben meiner Gefolgschaft unausgesetzt in mich aufzunehmen. Ich bin so in vorzüglicher Weise mit den oben angegebenen Mitteln zu Streich gekommen.“ (Brief 1953, in: King S. 423f)

Die Zeichen der Zeit zu deuten, erfordert in einer globalen, digital vernetzten Welt,

  • „überall nachzugehen den geistigen Strömungen in der ganzen Welt“;
  • sie in der säkularen Welt zu studieren, weil sie dort „am klassischsten ausgeprägt sind“: „Der neue Geist, der hat seine Nester weit mehr außerhalb er Kirche als innerhalb der Kirche“;
  • „immer Fühlung haben mit der nachfolgenden Generation, … um „instinktmäßig von der Jugend zu ertasten, welche Strömungen in der nächsten Zeitepoche am Werden und am Wachsen sind“;
  • die Zeitströmungen in der gesamten katholischen und nicht katholischen Welt im Zusammenhang zu sehen, weil „die Wasser, die heute das Erdreich der umgepflügten Welt durchströmen, letzten Endes nach Gottes Absicht in ein gemeinsames Bett einmünden sollen.“

(diverse Quellen, in: King, 425-429)

zu 7:

Einen eigenen Weg hat Kentenich beschritten. Er unterschied das überzeitliche Wesen eines Vorgangs von dessen geschichtlich bedingter Form. Dieses Wesen vermittelte er überzeugend und mitreißend. Dann ließ er Freiheit und beobachtete, ob die bisherige Form neu beseelt wurde oder ob sich neue Formen bildeten.

„Seit Jahrtausenden ist noch nie eine Zeit dagewesen, die so alles auf den Kopf stellt an geschichtlichem Geschehen, wie das heute der Fall ist. Darum eine Totalrevolution auf der ganzen Linie. Und wir müssen uns schon gestehen, daß die Kirche als Ganzes (sich) bisher, fast möchten wir sagen, bis zu einem gewissen Grade fast hermetisch abgeschlossen hat gegen diese Zeitrevolution, die hineinstürmte in unser Zeitalter….“ (Weihnachtstagung 1966: in: King, 225)

„Wir alle ohne Ausnahme stehen dem Kommenden im Kerne hilflos gegenüber…
Für ernste Forschungsarbeit steht eine doppelte Erkenntnisquelle zur Verfügung: Metaphysik und Weltgeschehen. Es geht darum, historisch gewordene Lebensformen, die erschüttert sind, von ihren ewigen Urideen zu lösen und diese wagemutig in die heutige Welt hineinzurufen, aber auch gleichzeitig Gottes Wünsche, wie sie aus dem Zeitgeschehen an unser Ohr dringen, nach dem Gesetz der geöffneten Tür sorgfältig zu berücksichtigen. Die so entstandenen Linien wollen miteinander verknüpft und zu einem einheitlichen Gewebe verbunden werden…
Es ist nicht jedermanns Sache, aus metaphysisch klarer Sicht der Lebensgebilde und echt katholischer Geschichtsdeutung heraus in schöpferischer Synthese ein zündendes und weckendes Zukunftsbild zu gestalten.
Selten findet sich beides gleichzeitig in einer Person verkörpert. Hier fehlt die metaphysische Anlage, dort die gesunde Lebensnähe und Zeitenschau und das Organ für Gottes Sprache in der Zeit. ”
(Studie 1949, in: King, 256 f.)


Literatur:

Amor, Christoph J.: Die Zeichen der Zeit als (offenbarungs-) theologischer Erkenntnisort? Eine kleine Problemskizze. In: Kairologie – Zeichen der Zeit. Zeitschrift für Katholische Theologie, Heft 1/2 2014, 32–45
King
, Herbert, Gott des Lebens (Joseph Kentenich – Ein Durchblick in Texten, Nr. 7), Vallendar-Schönstatt 2010.
Kessler, Hans, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Würzburg 1995

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