23 Vertiefungstexte – Im Licht des Evangeliums

Frau geht durch Wasser mit SpiegelbildFoto:pixabay.com

23 Im Licht des Evangeliums – Schritt 23

Das Konzil legitimiert uns, die gegenwärtige Zeit als Fortsetzung der Geschichte Christi zu sehen (1), als Weiterführung der Geschichte Gottes mit seinem Volk. (2) Es geht um nichts weniger, als das „Werk Christi selbst weiterzuführen“ (3) „unter Führung des Geistes“ (Gaudium et spes 3) (4). Dieser zeigt durch die Zeichen der Zeit, wie dieser Auftrag in der jeweiligen Epoche zu erfüllen ist (5), indem er uns inspiriert, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4). So gewinnt unsere Zeitgeschichte biblischen Charakter (6). Gott schreibt seine Geschichte mit uns weiter. Wir dokumentieren sie auf unserer Schriftrolle.

Im Anschluss an den Philosophen der Hermeneutik Hans-Georg Gadamer lässt sich von einer Horizontverschmelzung (7) sprechen. Der Horizont der Gegenwart, der alles umfasst, was von unserem Weg aus sichtbar ist, wird dann als Raum der Gegenwart, des Handelns und Sprechens Gottes verstehbar, wenn wir den großen Horizont dahinter, das Überlieferungsgeschehen, einbeziehen, der mit uns mitwandert. Im Deuten der Gegenwart vom biblischen Horizont her verschmilzt dieser mit dem Gegenwartshorizont.

zu 1:

Kentenich: „So wird der Sinn der Geschichte Vorbereitung, Fortsetzung, Abrundung und Vollendung der Lebensgeschichte Christi zwecks vollkommener Liebesvereinigung mit dem Vater… Die Zeit nach ihm ist die geheimnisvolle Wiederholung der einzelnen Phasen seines Lebens sowohl in bestimmten Individuen als auch in ganzen Geschlechtern. Bald ist es der kindliche Heiland, der Individuum und Zeit beherrscht und beiden das Gepräge gibt, bald der kämpfende Christus. Hier wiederholt sich in greifbarer Weise der Schauer des Karfreitags, dort der Jubel des Ostertages. Als der erste Mensch das Paradies überschritt, um mit Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies im Herzen in die Verbannung zu gehen, gesellte sich Christus … zu ihm, um ihn in seiner Nachkommenschaft nie mehr zu verlassen. Als Logos spermaticos folgt er den Heiden, und in geheimnisvoller Umhüllung begleitet er den Christen. Hier bereitet er Advent oder Weihnachten vor, wenn auch nur wenige kommen, um ihn anzubeten, wenn auch nur wenige bereit sind, ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe darzubringen. Dort erneuert er sein Nazarethleben. Er tut es überall, wo christliche Familien ihm den Zutritt gestatten. Predigend und heilend durchzieht er in Priestern und Laien die Welt. Allerorten verlangt sein Wort und Wirken unerbittlich eine starke Scheidung der Geister. In geheimnisvoller Weise lebt er noch einmal die Karwoche mit allen und in allen, die wie Paulus an ihrem Leibe ersetzen, was Christi Leiden noch fehlt, die stille bleiben, wenn die Massen den Pilatussen ihrer Zeit mit stürmischem Drängen zurufen: »Kreuzige ihn!«, die nicht zusammenbrechen, wenn Judasnaturen an ihnen zum Verräter werden und sie für dreißig Silberlinge verkaufen. Tag für Tag feiert er Ostern, wenn er auch nur wenig gläubige Zeugen seiner Auferstehung und seines glorreichen Sieges findet. Allen, die beharrlich sind im Beten und Brotbrechen, sendet er den Heiligen Geist.“ (Oktoberbrief 1949, 49-51)

„Es ist immer dasselbe letzten Endes: Christus will neu geboren werden; Christus will sein Leben, sein Leidensleben, aber auch sein sieghaftes Leben noch einmal leben in der ganzen Heils- und Weltgeschichte.“ (Vorträge 1963, in: King, 275)

Im persönlichen Leben:
„Der Sinn unseres Lebens ist ein Nachleben des Heilandslebens…
weil „Gott mich erschaffen hat, damit der Heiland sein ganzes Leben noch einmal in mir leben, fortsetzen und vollenden kann…
aber in origineller Weise… Jeder von uns darf in … persönlich originellster Weise am Heilandsleben teilnehmen.“ (Rom-Vorträge 1965, in: King, 132f.)

Söding zu Apg 13, 40f: „Schaut … und staunt …, weil ich ein Werk tue in euren Tagen.“ „Gott tut ein ‚Werk‘. Für Paulus ist es das göttliche Heilswerk, das in der Sendung Jesu besteht und sich im Missionswerk der frühen Kirche fortsetzt (vgl. Apg 14,26; 15,36).“
(Christ in der Gegenwart Nr. 10 / 2018, 115)

zu 2:

…und mit der ganzen Menschheit. Das 2. Vatikanischen Konzil bezeichnet es als seine Absicht, nicht nur den Christen, sondern allen Menschen „darzulegen, wie es Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht“, die „ganze Menschheitsfamilie mit der Gesamtheit der Wirklichkeiten, in denen sie lebt“, zu sehen als
a. „durch die Liebe des Schöpfers begründet und erhalten“
b. „unter die Knechtschaft der Sünde geraten“
c. „von Christus … befreit“
d. dazu „bestimmt, umgestaltet“ zu werden. (Gaudium et spes 2)

zu 3:

Im Vorwort der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ bezeichnet des Konzil als Intention der Kirche „nur dies eine: unter der Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen.“ (Gaudium et spes 3)
Kessler: „Gott selbst kann im Dasein Jesu für die Anderen (bis zum Äußersten der Lebenshingabe) ganz für die Andern wirksam (annehmend, versöhnend, befreiend) dasein und handeln (neues Leben der Agape schaffen) Im lebendigen Zeugnis von Christen und Christengemeinden wird dieses alles entscheidende, weil endgültige innovatorische Handeln Gottes durch Jesus weitergetragen.“ (S. 295)

Das Zweite Vatikanische Konzil betont in allen Dokumenten das geschichtliche Handeln Gottes. »[N]ahezu auf allen Seiten [wird] vom Wirken des erhöhten Herrn durch den Geist in und vermittels der Gläubigen bzw. der Kirche« gesprochen; »[d]as Konzil hat hier ein neues Kapitel der Christologie aufgeschlagen.« (P. Hünermann, in: Böttigheimer, 200)

Böttigheimer: „In dem durch den göttlichen Heilswillen inspirierten Handeln des Menschen spiegelt sich die göttliche Wirklichkeit wider, wie sie sich in der Offenbarungsgeschichte mitgeteilt hat. Es ist sein eigenes Wesen, seine Liebe, die den Menschen zum Handeln bewegt, ohne ihn zu zwingen. Eine Liebe, die den Kern des geschichtlichen Heilswirkens Gottes bildet und in Jesus von Nazareth Fleisch angenommen und unter uns gewohnt hat. Fortan wirkt diese Liebe kraft des Geistes Gottes innerweltlich fort. Wird dieses Angebot göttlicher Liebe freiwillig ergriffen, wirkt Gott durch das Handeln des Menschen in der Welt. (Böttigheimer, 190)

J. Blank: „Kurz: der Geist bewirkt die bleibende Gegenwart des Jesus-Geschehens durch das Wort“ ( J. Blank, Art. Hl. Geist / Pneumatologie, 160; Zitat bei Stosch, Gott – Macht, 390)

Stosch: Dies bedeutet, „dass der Heilige Geist das innere Lebensprinzip, die Seele der sichtbaren Kirche ist (W. Kasper, Der Gott Jesu Christi S. 254). Der Geist ist es, der nach neutestamentlichem Zeugnis auch in der Kirche die Menschen zusammenführt, gegenseitiges Verstehen ermöglicht und die Verkündigung des Wortes begleitet (vgl. Apg 2; 4,31; 10,44-46). Er ist in apostolischer bzw. kirchlicher Vermittlung wirksam (vgl. Apg 8,17; 9,17; 10,44; 11,15-17; 19,6). Er bestellt Bischöfe (vgl. Apg 20,28), leistet den Aufbau der Gemeinde und der Kirche (vgl. Apg 9,31) und führt sie zur Gemeinschaft und Einheit zusammen (vgl. Phil 2,1).

Christen sind nach Paulus geradezu als die definiert, die den Geist haben und sich von ihm leiten lassen (vgl. Röm 8,9.14) Der Geist ruht auf der christlichen Gemeinde (vgl. 1 Petr 4,14; 1 Joh 3,24), bestellt die Christen zu Erben Christi (vgl. Röm 8,17) und wohnt in ihnen (vgl. 1 Kor 3,16), bzw. durch den Geist werden sie zur Wohnung Gottes (vgl. Eph 2,22). Der Geist ist es, der gerecht macht (vgl. 1 Kor 6,11) und damit die Kirche der Heiligen konstituiert. Anders als Lukas geht es Paulus bei alledem weniger um das spektakuläre äußerliche Wirken des Geistes, als vielmehr um sein Wirken im alltäglichen Leben, das durch die oben zitierten Gnadengaben charakterisiert ist. Dennoch sind sich beide mit den übrigen neutestamentlichen Autoren einig, dass der Heilige Geist in den Grundvollzügen der Kirche wirksam ist. Er wirkt ebenso im Wort der Jüngergemeinde wie in den Sakramenten (Kasper, Der Gott Jesu Christi, 281).“

Der Geist „ist auch Wegweiser und Begleiter im Alltag. So wie er als Inspirator und Wegleiter Jesu tätig ist (Mt 4,1; Lk 2,27; 4,14), weist er auch Paulus und den Aposteln den Weg (vgl. Apg 13,4; 16,6f; 20.22f). Im Vertrauen darauf, dass diese Wegweisung auch heute noch möglich ist und in der Hoffnung, dass wir durch den Geist in unserem tiefsten Eigensein verbunden sind mit der letzten Wirklichkeit, kann es zu dem merkwürdigen Phänomen kommen, dass wir in schweren Entscheidungssituationen auf unser innerstes Gefühl vertrauen, neue Lebensmöglichkeiten und Alternativen entdecken und uns dabei zu Recht getragen oder geführt fühlen. Gottes guter Geist ist – wie das Psalmengebet verspricht – eben auch heute noch überall beim Menschen (vgl. Ps 139,7) und leitet ihn ‚auf ebenem Pfad‘ (Ps 143,10).“ (Gott – Macht S. 377)

Er „erweist sich in einer widerständigen Wirksamkeit, wie sie sich etwa in der Sprengung verfestigter, lebensfeindlicher Formen vollzieht“ (Bernhardt, 453) (a.a.O. S. 378)

„Wer von Gottes Ruach ergriffen ist, ‚lässt sich nicht mehr in seine Ängste einsperren und gewinnt so auch den Freimut …, geltende Prioritäten in Frage zu stellen und sich von falschen Loyalitäten zu lösen‘ (J. Werbick, Von Gott sprechen an der Grenze zum Verstummen, 192). Sie demaskiert überzogene Macht- und Herrschaftsansprüche und eröffnet Raum für Veränderungen und Neuanfänge.“ (a.a.O., 379)

„Auch diese Eröffnung von Raum für Veränderungen und die durch den Geist vermittelte Kraft zur Wandlung, die schließlich in der Rede von der Neuschöpfung gipfelt und dadurch das heilsgeschichtlich-eschatologische Ziel des Geistwirkens verdeutlicht, wird in zahlreichen biblischen Bildern wiedergegeben. So ist davon die Rede, dass der Geist die Wüste zum Garten verwandeln und sie zum Ort von Recht und Gerechtigkeit machen wird (vgl. Jes 32,15f). Er wird das erstorbene Volk zu neuem Leben erwecken (vgl. Ez 37,14). ‚Der Geist ist es, der lebendig macht‘ (Joh 6,63; vgl. Röm 8,11; 2 Kor 3,6). Er ist wie ‚Wasser auf dürstendem Boden‘ und ermöglicht Israel den Neuanfang nach dem Exil (Jes 44,3). ‚Der endzeitliche Geist, Gottes Geist, ist die neue Lebenskraft, vergleichbar dem Herz aus Fleisch bzw. dem, was von ihm ausgeht: der Lebensstrom, der den Körper lebendig und handlungsfähig macht‘ (Werbick, a.a.O., 185).“ (a.a.O., 379)

Der Geist bewirkt „die gewaltlose, weil bei der Verwandlung des menschlichen Herzens ansetzende Transformation und Transfiguration der Welt.“ (a.a.O. S. 380)„Das Wirken Gottes als Geist … ist immer dann spürbar, wenn in ausweglosen Situationen Alternativen und neue Lebensmöglichkeiten aufscheinen und wenn sich auf diese Weise die Freiheit des Menschen für die neuen Lebensperspektiven Gottes öffnet. (Werbick a.a.O., 192)“ (a.a.O., 380)

„Die befreiende Wirkung des Geistes ist also immer dann spürbar, wenn man herausfindet aus dem Gefühl des Reagierenmüssens und des Beherrschtseins von den Umständen und wenn man den eigenen Weg selbst zu wählen beginnt. Sie wird dann erfahren, wenn man sich nicht mehr von Verboten und Zwängen beherrschen lässt und wenn man allen Instrumentalisierungen von Menschen für irgendwelche Zwecke entgegentritt. Sie wird dann Wirklichkeit, wenn man sich nicht mehr vom Alltag treiben lässt, sondern bewusst aus sich heraus lebt und gerade so Gemeinschaft mit dem Anderen ermöglicht. Von daher braucht es den bereits vom Geist getragenen konkreten Freiheitsvollzug, um sein Wirken überhaupt wahrnehmen und sich in einem dialogischen Freiheitsverhältnis dazu stellen zu können.

Was hier gemeint ist, wird anfanghaft in der Liebe erfahrbar. Denn es ist ja tatsächlich die Erfahrung von Liebenden, dass im Vollzug von Liebe und Hingabe Freiheit und eine neue Form des Selbstseins durch das Sein vom Anderen her und auf ihn hin erfahrbar wird…
Eben diese Erfahrung der Befreiung durch Liebe macht deutlich, wie eng die geistgewirkte Freiheit mit der Erfahrung von Liebe zusammenhängt. Genauso wie Freiheit die Bedingung der Möglichkeit von Liebe ist, wird Freiheit im eigentlichen Sinn von Liebe getragen und ermöglicht. Liebe aber ist die wichtigste aller dem Heiligen Geist zugesprochenen Gnadengaben (vgl 1 Kor 13; Kol 1,8)“ (a.a.O., 381 f.)

 zu 5:

Kentenich: „Johannes XXIII. hat einmal in seiner Art ein überaus sinnreiches Wort gesprochen, das lautet so: In der Heiligen Schrift sind ungezählt viele Forderungen (enthalten), die noch nicht zur Genüge aufgeschlossen sind: aufgeschlossen werden sie durch die Zeit. Ein überaus schönes Wort. Was heißt das also hier? Zeitgeschehen, Stimme Gottes in der Zeit, liegt auf derselben Linie wie die Stimme Gottes in der Heiligen Schrift. Die beiden ergänzen sich einander, die beiden bedingen sich einander, die beiden fordern und fördern sich einander.
Wenn wir nun auf Einzelheiten eingehen wollten, dann müßten wir wohl so sagen: Gilt das nicht von jedem Zeitgeschehen? Wenn also jegliches Zeitgeschehen ergänzt (und) klärt die Forderungen der Heiligen Schrift, um wieviel mehr gilt das heute! Damit stehen wir wieder vor dem Heute. Ja, wer kann zu dem Heute heute in entsprechender Weise sinngerecht und seinsgerecht Stellung nehmen?“
(Weihnachtstagung 1966, in: King, 224)

zu 6:

Kentenich: … das eigene Leben … oder die eigene Familiengeschichte : Diese Geschichten sind nicht nur eine heilige Geschichte, sondern auch gleichsam eine Heilige Schrift… Ein Hineingezogenwerden in die Zeitgeschichte bedeutet Hineingezogensein in die Heilsgeschichte… , und Weltgeschichte soll für uns immer eine Heilsgeschichte sein. (Exerzitien für Schönstatt-Priester 1966, in: King, 231)

Amor: Wenn „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit … Freude und Hoffnung, Trauer und Angst auch der Jünger Christi“ sind (GAUDIUM ET SPES 1,1), dann sind das „ekklesiale Phänomene“. (M. Dürnberger; in Amor, ZKTh, 36f) Dann finden sich darin nach GAUDIUM ET SPES 11 „wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes“, also „wirkliche Offenbarungsorte“ (Amor, ZKTh, 37)
Es ist das Leben selbst in seiner Vielfalt, in dem Gott seinen Willen zeigt und seine Gnade lockt. „Im Lichte des in der lectio divina genährten Glaubens können sie (die Priester) die Zeichen des Willens Gottes und den Lockruf seiner Gnade in den vielfältigen Ereignissen des Lebens sorgfältig suchen und so für ihre im Heiligen Geist angenommene Mission von Tag zu Tag dazulernen.“ (Presbyterorum Ordinis 18)
Offenbarungsorte müssen „zunächst als Orte gelebten Glaubens verstanden werden, in denen die Gegenwart Gottes zu entziffern und eine Spur gelingenden Lebens für alle zu finden wäre“. (Zitat von Amor – nicht mehr auffindbar)
Darüber hinaus aber – und dies gilt es neu zu sehen und zu realisieren -, gerade in Vorgängen unserer säkularisierten Welt sind „offenbarungsträchtige Tatbestände“ zu entdecken. ( Bauer, Zeichen der Zeit? S. 206; zitiert in: Amor, ZKTh, 37)
Dieses offenbarungstheologische Verständnis der Zeichen der Zeit ist vor allem von der lateinamerikanischen Kirche rezipiert worden. (s. Amor ,ZKTh, 37)

zu 7:

„Horizontverschmelzung“ nach Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002. Hauptwerk: Wahrheit und Methode).
Was ich wahrnehme, versuche ich ständig einzuordnen in meinen Verstehenshorizont. Aus sich heraus kann sich ein Gegenstand mir nicht erschließen. Erst beim Aufblicken in den weiteren Horizont gelingt es mir nach und nach, den Gegenstand einzuordnen und zu verstehen.

Prozess des Verstehens nach Gadamer (kursiv: Zitate von oder über Gadamer)

  1. Ausgangspunkt allen Verstehens ist die Situation. Der erste Schritt des Verstehens lautet: sich in die Situation hineinstellen (nur von außen betrachten, führt nicht zum wirklichen Verstehen).
    „Situation“ bedeutet für Gadamer ein Darin-Stehen.
  2. Zweiter Schritt: den Horizont der Situation ringsherum betrachten / abschreiten
    Mit „Horizont“ meint Gadamer den „Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist“.
    „Wer Horizont hat, weiß die Bedeutung aller Dinge innerhalb dieses Horizontes richtig einzuschätzen nach Nähe und Ferne, Größe und Kleinheit.“
  3. Dritter Schritt: den gegenwärtigen Horizont auf dem Hintergrund weiter zurückliegender Horizonte betrachten und einordnen (ohne Tradition ist die Gegenwart nicht verstehbar.)
    Nun hat sich der gegenwärtige Horizont nicht ohne die Vergangenheit gebildet. In der historischen und kulturellen Tradition ist er deshalb nicht grundsätzlich verschieden von früheren Horizonten.
    Der Horizont ist etwas, „in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert.“
    Das „ Verstehen“ ist „ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“
  4. Vierter Schritt: Diese wechselseitige Vermittlung der gegenwärtigen und der vergangenen Horizonte nennt Gadamer „Horizontverschmelzung“.
    Die „Tradition (vollbringt)… im Vollzug des Verstehens eine ‘Verschmelzung‘ des gegenwärtigen mit dem vergangenen Horizont“
    „Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. […] Im Walten der Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt.“

In der Regel haben wir es nicht mit einer punktuellen Situation zu tun, sondern mit Prozessen, die durch die „mitwandernden“ Horizonte gedeutet und verstanden werden. Daraus geht gedeutete Geschichte hervor.
Wenn nun nicht allein die einzelne hermeneutische Situation … betrachtet wird, sondern auch die Tatsache, daß sie in aller Regel auf eine ganze Reihe von entsprechenden Situationen folgt und ihrerseits wiederum neue, nachfolgende hervorrufen kann, so eröffnet sich eine Dimension, die Gadamer Wirkungsgeschichte nennt.

Der Prozess der Horizontverschmelzung vollzieht sich demnach in 4 Schritten:

1 „Darin-Stehen“
2 Wir schreiten den gegenwärtigen Horizont ab
3 Wir halten Ausschau nach früheren Horizonten bes. dem biblischen
4 Wir lassen die „Horizontverschmelzung“ geschehen.


Literatur:

Amor, Christoph J.: Die Zeichen der Zeit als (offenbarungs-) theologischer Erkenntnisort? Eine kleine Problemskizze. In: Kairologie – Zeichen der Zeit. Zeitschrift für Katholische Theologie, Heft 1/2 2014, 32–45
Bernhardt, Reinhold: Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung. Gütersloh 1999
Böttigheimer, Christoph: Wie handelt Gott in der Welt? Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft. Freiburg / Basel / Wien 2013
Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, Bd. 1, Hermeneutik: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2010
Kentenich, Josef: Oktoberbrief 1949. Vallendar-Schönstatt 1970
Kentenich, Josef: Ein Durchblick in Texten, Siebter Band: Gott des Lebens, hrsg. Von Herbert King, Vallendar-Schönstatt 2010
Kessler, Hans: Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Würzburg 1995
King, Herbert, Gott des Lebens (Joseph Kentenich – Ein Durchblick in Texten, Nr. 7), Vallendar-Schönstatt 2010
von Stosch, Klaus: Gottes Handeln denken. Ein Literaturbericht zur Debatte der letzten 15 Jahre. In: Theologische Revue 2/2005, 90–108
von Stosch, Klaus: Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt. Freiburg / Basel / Wien 2006

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