10 Vertiefungstexte – Gottes Allwissenheit und des Menschen Freiheit

10  Gottes Allwissenheit und des Menschen Freiheit – Schritt 10

Gottes Allwissenheit und menschliche Freiheit scheinen unvereinbar zu sein (1). Jedenfalls für menschliches Denken, da uns Allwissenheit nicht möglich und Freiheit nicht durchschaubar ist (2). Warum aber sollte auch für Gott beides nicht vereinbar sein? Nach Nikolaus von Kues (1401 – 1464) sind die Gegensätze in Gott eingefaltet, in der Welt ausgefaltet. Das menschliche Denken muss Gott die  coincidentia oppositorum, den Zusammenfall der Gegensätze zugestehen.

In der PASTORAL AM PULS betonen wir beides: Alles ist vom Wissen und Wollen Gottes umfangen – und der Mensch hat einen Spielraum der Freiheit.

Umgekehrt sollten wir nicht absolut von Gottes Allmacht und Allwissenheit sprechen, (sonst wäre der Mensch Gottes Marionette), sondern als ein Vorauswissen, das unerschöpfliche Möglichkeiten für das freie Handeln des Menschen „eingeplant“ (3) hat.

Dazu hier drei Vergleiche

Gleichnis vom persischen Teppichknüpfer

Ein persischer Teppichknüpfer arbeitet zusammen mit seinen Kindern an der Herstellung eines Teppichs. In seiner Weisheit und Souveränität versteht es der Vater, alle Fehler, die seine Kinder verursachen, in kontinuierlicher Revision seiner idealen Projektvorstellung in das entstehende Muster zu integrieren und so ein vollendetes Design zu schaffen.   (J. Lucas, 39, nach Bernhardt, 156)

Die Stimme des Navis

Ein Autofahrer kennt die Strecke nicht und richtet sich nach seinem Navigationsgerät. Das Ziel ist eingegeben. Die Stimme des Navis führt ihn sicher zum Ziel. Doch der Fahrer hat Alternativen. Er kann die kürzeste, die schnellste oder die ökologisch sinnvollste Strecke wählen. Er kann auch anders fahren, als die Stimme des Navis ihm vorgibt. Er hat die Freiheit, von jedem Punkt aus seine weitere Fahrtrichtung zu bestimmen. Die Stimme des Navis wird ihm dann von jedem beliebigen Punkt aus wiederum die beste Strecke zum Ziel nennen.
Auf Gott als „Navigator“ übertragen:
Gott kennt Weg und Ziel und zeigt uns den besten Weg, damit wir nach seinem Wunsch und Willen handeln. Aber wir sollten uns den unendlichen Gott eher so vorstellen, dass er ungeahnt viele Wege und Möglichkeiten kennt. Er hat immer viele Alternativen. Auf welchem Weg er sein Ziel erreicht, liegt in unserer Freiheit. Zum Preis der Freiheit gehören auch menschliche Um- und Irrwege.

Der meisterhafte Tennisspieler

„Gott ist der meisterhafte Tennisspieler, der alle Bälle, von wem sie auch immer unmittelbar geworfen werden und wie ungeschickt es auch immer geschehen sein mag, aufzufangen und planmäßig zu dem von Ewigkeit vorgesehenen Ziele zu lenken versteht.“ (King, 278 f.)

zu 1:

Julia Knop verfolgt die Theologie des Vorsehungsglaubens in den letzten Jahrzehnten an Hand seiner Darstellung im LThK in den bisherigen drei Auflagen (Knop S. 49-59). Die 1. Auflage legt in neuscholastischer Begrifflichkeit das Dogma von der göttlichen Providenz dar. Was Gott von Ewigkeit her geplant hat, führt er in der Geschichte aus. Seine Vorsehung umfasst „nicht nur das unfehlbare Vorherwissen … der Zukunft, namentlich der freien Akte aller Vernunftwesen, sondern auch das unabänderliche Vorausbeschließen alle zukünftigen Geschehnisse.“ (Knop S. 51) Das traditionelle Verständnis der göttlichen Vorsehung bleibt hier noch unhinterfragt.

Das gilt auch für die 2. Auflage. 1965 schreibt Karl Rahner, die göttliche Vorsehung sei „unveränderlich und von unfehlbarer Sicherheit, d.h., was Gott frei von Ewigkeit ein für allemal gewollt hat mit einem absoluten Willen, wird von ihm auch erreicht.“ (Knop S. 52)

Kentenich steht einerseits in dieser Tradition. Er spricht von Gottes „Liebes-, Weisheits- und Allmachtsplan“, den er von Ewigkeit entworfen hat und in der Zeit durchführt. Andererseits legt er größten Wert auf zwei Eigentümlichkeiten. Die menschliche Freiheit spielt bei ihm eine außerordentliche Rolle. Schon bei der Rezeption des scholastischen Verständnisses legt er den Akzent auf die Freiheit. Deus operatur per causas secundas liberas – Gott handelt durch freie Zweitursachen – ist für ihn ein Schlüsselsatz. Durch sein Grundverständnis einer Bundesbeziehung zwischen Gott und Mensch erscheint der Mensch als Gottes freies Gegenüber. Die gesamte Pädagogik Kentenichs ist zentral Freiheitspädagogik: „Jeder von euch kann eine eigene Kausalreihe in Gang setzen!“, ist eine seine ersten Botschaften an seine jugendlichen Mitarbeiter.

Als zweites charakterisiert er seine Sicht als aktiven Vorsehungsglauben und ergänzt so das traditionelle Verständnis und entwickelt es weiter.
Wenn Kentenich auch die Spannung zwischen dem ewigen Plan Gottes und der Freiheit des Menschen theologisch nicht aufarbeitet, wie dies Rahner tut, indem er Gott als transzendentalen Grund menschlicher Freiheit bezeichnet (siehe Schritt 5.5 d), so bringt er doch für das Leben und Handeln beide Elemente in engsten wechselseitigen Zusammenhang: Gott „entschleiert“ Menschen seine Pläne und lässt sie durch deren freie Mitwirkung verwirklichen.

„Vorsichtig bemühten wir uns, den großen Liebes-, Weisheits- und Allmachtsplan des ewigen Gottes bis in alle Einzelheiten zu erkennen und ihn mutig zum Fahrplan unseres Lebens und Wirkens zu machen: wir strebten danach, das Kalendarium, das er von Ewigkeit für jeden Tag geschrieben, aufmerksam einzusehen und danach zu handeln und uns behandeln zu lassen.“ (King, 454 f.) (ausführlicher: Schritt 19.2)

In der 3. Auflage des LThK (1993-2001) ist das traditionelle Verständnis von Vorsehungsglauben aufgegeben. Georg Essen beschreibt Vorsehung „als Gottes treuer und in seinen Möglichkeiten unerschöpflicher Wille …, freie Menschen (providentia specialis), ja, alle Geschöpfe (providentia generalis) zur Teilhabe an seinem trinitarischen Leben zu führen.“ (Knop S. 54)
Georg Essen weist selber auf die Schwierigkeit hin, wie diese Sicht vereinbar sei mit der Allmacht,  Allgegenwart, Allwissenheit Gottes. Die Geschichte Gottes mit den Menschen – ob er seine Ziele erreicht – müsste als „eine wirklich offene“ verstanden werden. (Knop S. 54)

zu 2:

Interessant ist hier ein Seitenblick auf das Komplementaritätsprinzip in der Physik und anderen Wissenschaften. Es geht zurück auf den Physiker Niels Bohr und besagt, „dass zwei methodisch verschiedene Beobachtungen und Beschreibungen eines Vorgangs einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und einander ergänzen.“

Als Beispiel aus der Quantenmechanik dient vielfach der Sachverhalt, dass eine gleichzeitige Bestimmung von Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist. Es scheint unmöglich, „dass etwas gleichzeitig ein Teilchen sein kann, also eine auf ein sehr kleines Volumen begrenzte Einheit, und eine Welle, die sich über einen weiten Raum erstreckt.“ Teilchen und Welle sind klassische Vorstellungen, von denen jede unzureichend ist, atomare Erscheinungen zu beschreiben. Für Bohr „waren das Teilchenbild und das Wellenbild zwei sich ergänzende Beschreibungen derselben Wirklichkeit, von denen jede nur teilweise richtig war und eine beschränkte Anwendungsmöglichkeit hatte.“

Man nennt die beiden paradoxen Beschreibungen auch kontradiktorisch, d.h. widersprüchlich, nicht-exhaustiv, d. h. den Bedeutungsinhalt nicht erschöpfend, inkommensurabel, d. h. nicht mit der gleichen Einheit darstellbar, oder inkompatibel, d.h. nicht verträglich, nicht vereinbar. Die häufige Formulierung „weder kompatibel noch inkompatibel, sondern nicht-kompatibel“ bedeutet, dass die Aussagesätze miteinander weder verträglich noch unverträglich, sondern in einer dritten Weise nicht-kompatibel, d.h. komplementär, sind.

Komplementär in diesem Sinne ist beispielsweise auch die Vorstellung von der Kausalität der Gehirnvorgänge und dem Erleben des freien Willens.
Eine anschauliche Metapher ist der Schuhbändel (engl. bootstrap: Stiefelschlaufe): Er ist nur mit zwei Teilen handhabbar, obwohl er doch ein einziger ist.
(vgl. Wikipedia, „Komplementaritätsprinzip“; wörtliche Zitate aus: Fritjof Capra, Wendezeit.Bausteine für ein neues Weltbild, Bern 1984 S. 81-82)

zu 3:

Zur Anmerkung, dass Gott „unerschöpfliche Möglichkeiten für das freie Handeln des Menschen ‚eingeplant‘ hat“ und zu den drei Vergleichen:

Dies vertrat bereits Luis de Molina (1535 – 1600), jesuitischer Theologe und Begründer des Molinismus. „Gottes Mitwirkung besteht in der Aktualisierung unaktualisierter Möglichkeiten, wobei er zusammen mit der Zweitursache aus dem von ihm geschaffenen immensen Überschuss der Möglichkeiten schöpft“, wobei „Gott in seiner Allwissenheit die Möglichkeiten der menschlichen Handlungsentscheidungen voraussieht und sie optional in seinen eigenen Handlungsentwurf miteinbezieht.“ (Bernhardt, 151)

Das Konzept Molinas wird von W. James und P. T. Gaech (s. Bernhardt, 154) aufgenommen in der Metapher des Schachspiels. Ein Schachgroßmeister kann die Züge seines Mitspielers vorhersehen. So ist es „Gott, der in seiner Allwissenheit die Summe aller Möglichkeiten und ihrer eventuellen Verwirklichung überblickt und damit alle Optionen menschlicher Freiheit kennt, sie in seinen Plan einbezieht…“ (Bernhardt S. 155)

Gott überlässt es „dem freien Wirken der geschöpflichen Aktinstanzen, welche dieser Möglichkeiten sie auf welche Weise verwirklichen.“ (Bernhardt S. 154) Wohl kennt Gott „die Summe aller möglichen Züge des Gegners, die dadurch entstehenden Situationen und seine potentiellen Reaktionen darauf, doch kennt er nicht das tatsächliche Spielverhalten der Mitspieler.“ (Bernhardt, 155 Anm. 345)

Eine Parallele zum Navi-Vergleich sind die Ausführungen Vincent. Brümmers, dass Gott immer dazu fähig ist, „schöpferisch auf das zu reagieren, was wir zu tun beschließen. … Sobald wir seine besten Absichten für uns zerschlagen, bringt er aus seiner Neueinschätzung der Situation die zweitbesten Absichten hervor. … In dem Maß, indem wir es ablehnen, mit Gott zur Verwirklichung eines Plans zusammenzuarbeiten, führt unsere Nicht-Kooperation dazu, einen neuen Plan möglich zu machen.“ Mit dem Nachteil für uns: Wir werden „seine Werkzeuge, wenn wir es ablehnen, Täter nach seinem Plan zu sein.“ (Bernhardt, 31 f.)

Greshake: „So bewegt Gott durch sein Wort und seinen Geist die Geschichte, aber mit sehr beweglichen Plänen, die jeweils die Freiheit des Menschen respektieren. Dessen freie Entscheidung zur Übernahme seiner Gaben und Aufgaben hat offenbar für Gott selbst Bedeutung; er übergeht und erzwingt sie nicht; er wirbt und bittet um sie.“ (Greshake, Der dreieine Gott, 302. Siehe in: Stosch, Gott – Macht, 87)

Schon biblisches Denken schließt Gottes Ändern seiner Vorhaben und Wege ein, abhängig vom Verhalten der Menschen. Dies geschieht etwa in der anthropomorphen Vorstellung von der „Reue“ Gottes. Dies ist Thema im Buch Jona, einer Reflexion über das Handeln Gottes: Als die Bewohner von Ninive auf die Untergangsansage durch Jona hin sich bekehren:

“Gott sah ihr Verhalten; er sah, dass sie umkehrten und sich von ihren bösen Taten abwandten. Da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht. Das missfiel Jona ganz und gar und er wurde zornig. Er betete zum HERRN und sagte: Ach HERR, … ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ (3, 10 – 4,2)

Diese Reflexion darf ausgeweitet werden auf die meisten Heils- und Unheilsansagen der Propheten. Sie sind abhängig vom Hören und Umkehren bzw. nicht Hören und nicht Umkehren der Adressaten, selbst wenn die Ansagen sprachlich apodiktisch formuliert waren.

Auch das Bittgebet kann Gott „umstimmen“ – bezeugt von der Fürbitte Abrahams für Sodom (Gen 18, 16-32) bis zum Gleichnis Jesu vom bittenden Freund um Mitternacht (Lk 11, 5-8).

Ein anderer Lösungsansatz zur Thematik „Allwissenheit Gottes und Freiheit der Geschöpfe“ geht auf Boethius zurück. Sein Argument „wendet sich gegen die Voraussetzung des Konsequentsargumentes, dass Gott unsere zukünftigen Handlungen als zukünftig weiß, sein Wissen um die Zukunft also temporalisch als Vorauswissen zu verstehen ist. Nach Boethius kennt Gott zukünftige Handlungen vielmehr in derselben Weise, in der wir gegenwärtige kennen, weil das zeitliche Differente dem ewigen Wissen Gottes zeitlos gegenwärtig ist. Wenn sein Wissen aber keinen zeitlichen Index hat und unseren künftigen Handlungen mithin nicht zeitlos vorausgeht, sind diese Handlungen durch sein Wissen nicht schon festgelegt, ehe sie ausgeführt werden“. ( Hermanni: Metaphysik, 95).

Das Argument findet sich (nach Hermanni: Metaphysik, 95 Anm. 8) bei:

  • Boethius: Trost der Philosophie – Consolatio philosophiae, lat.-dt., hrsg. u. übers. von E. Gegenschatz/O. Gigon, München, Zürich 1990, 3.p.-6.p. (S. 236-275).
  • Anselm von Canterbury: De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae dei cum liberio arbitrio, in:ders.: Freiheitschriften, lat.-dt., übersetzt und eingeleitet von H. Verweyen, Freiburg1994, S. 270 ff.
  • Thomas von Aquin: STh, z.B. I, q. 14, a. 9.

Literatur:

Bernhardt, Reinhold: Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung. Gütersloh 1999.
Capra, Fritjof: Wendezeit.Bausteine für ein neues Weltbild, Bern 1984.
Lucas, John Randolph: Freedom und Grace. London 1976.
Faber, Roland: Prozesstheologie, in: Barwasser, Carsten (Hrsg.): Theologien der Gegenwart. Eine Einführung. Darmstadt 2006, 179–197.
Greshake, Gisbert: Geschenkte Freiheit, Freiburg/Basel/Wien 1992.
Hermanni, Friedrich: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen (Collegium Metaphysicum 1), Tübingen 2011
Kentenich, Josef: Oktoberbrief 1949. Vallendar-Schönstatt 1970.
King, Herbert: Gott des Lebens (Joseph Kentenich – Ein Durchblick in Texten, Nr. 7), Vallendar-Schönstatt 2010.


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