22 Vertiefungstexte – Zeichen der Zeit

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22 Zeichen der Zeit (1)  – Schitt 22

Wir bemühen uns um innere Weite (2) für die globale Welt. Wir erspüren „die Welt der Menschen, das heißt die ganze Menschheitsfamilie mit der Gesamtheit der Wirklichkeiten, in denen sie lebt; die Welt, der Schauplatz der Geschichte der Menschheit, von ihren Unternehmungen, Niederlagen und Siegen geprägt“ (Gaudium et spes 2). Alles Menschliche will in unseren Herzen seinen Widerhall finden. (vgl. GS 1,1) „Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.“ (GS 4) (3)
Dabei versuchen wir, der Welt in den konkreten Menschen und Ereignissen zu begegnen – und umgekehrt.

„Aggiornamento“ – mit diesem Wort beschrieb Papst Johannes XXIII den Auftrag des Konzils. Als „Anpassung“ missverstanden und umstritten, wird der Begriff (ital. giorno = der Tag) besser wörtlich übersetzt mit:“ Auf-den-Tag-bringen“; „Verheutigung“.
Dieses „Aggiornamento“ wirkt auf die Kirche zurück und verändert sie. Kentenich machte dies geradezu zum Programm, wenn er in seiner Rede zum Ende des Konzils über die Kirche sagte: „Dann hat sie rechts und links am Pilgerwege, am Pilgerwege ihrer Existenz, am Pilgerwege ihrer historischen Existenz Elemente verschiedenster Art in sich aufzunehmen, hat dafür zu sorgen, dass diese Elemente ihr Antlitz, ihr zeitbedingtes Antlitz wesentlich mitprägen.“
Dabei geht es nicht um Einzug des Zeitgeistes, nicht um Anpassung an Modeströmungen, nicht um ein den Entwicklungen Hinterherlaufen, sondern um das Forschen nach dem Geist der Zeit hinter dem und (oft auch) gegen den Zeitgeist (4)

zu 1:

Die Jesusworte von den Zeichen der Zeit (Lk 12,56 und Mt 16,3) meinen die Zeichen für die in Jesus anbrechende Heilszeit.
Der Begriff „Zeichen der Zeit“ wurde zu Beginn des 20. Jhdt. in der christlichen Publizistik gebräuchlich.
Johannes XXIII übertrug in der Eröffnungsansprache des Konzils diesen christologisch gefüllten Ausdruck auf Tatbestände unserer Zeit.
Das Konzil erteilte der Rede von den Zeichen der Zeit den „theologischen Ritterschlag“ (vgl. Amor ZKTh S. 32)

Als Zeichen der Zeit sieht das Konzil

  • in der Welt: die Menschenrechtsbewegung (Gaudium et spes 41); die Forderung nach Religionsfreiheit (Dignitatis humanae 15),die Einswerdung der Welt infolge wirtschaftlicher Verflechtungen und kommunikationstechnischer Vernetzungen (Gaudium et spes 42; 44), die wachsende internationale Solidarität (Apostolicam actuositatem 14) sowie die naturwissenschaftlich-technische Revolution (Gaudium et spes 5; 56f);
  • im Raum der Kirche: die liturgische Erneuerung (Sacrosanctum Concilium 43), die Ökumenische Bewegung (Unitatis redintegratio 4), die den Laien eigenen Gaben und Fähigkeiten bei der Deutung der Zeichen der Zeit (Presbyterorum ordinis 9). (vgl. Böttigheimer S. 215)

Matthias Hugoth: „Mit ‚Zeichen der Zeit‘ sind die aktuellen Bewusstseinsströmungen und Entwicklungstrends gemeint, die für eine Epoche bestimmend sind und sich auf das Denken und Leben der Menschen nachhaltig auswirken.“ Nach den Zeichen der Zeit zu forschen heißt, „genau hinzuschauen und zu analysieren, welche Geisteshaltungen und kollektiven Stimmungen die Menschen von heute bestimmen.“ (Skriptum für den Theologischen Kurs in Eppelheim 2017, C 6)

Böttigheimer: Für das Geschichtshandeln Gottes „steht das Theologumenon >Zeichen der Zeit<. Solchen Zeitsignaturen ist gemein, dass sie von kollektiver Bedeutung sind, das aktuelle Bewusstsein, Denken und Handeln einer breiten Öffentlichkeit nachhaltig erschüttern und in der Diskontinuität Neues heraufführen, in welchem der Glaube den Anruf Gottes erkennt – inmitten der profanen Wirklichkeit.“ (M. Heimbach-Steins, Erschütterung durch das Ereignis. In: Böttigheimer S. 214f A 116)

„In signifikanten Gesellschaftsereignissen kann nach Auskunft des Zweiten Vatikanischen Konzils das fortwährende Heilshandeln Gottes sichtbar werden, sofern die Signale theologisch gedeutet werden… Bestimmte Charakteristika der Gegenwart geben, sofern sie ausgehend vom Evangelium reflektiert werden, Zeugnis von der verborgenen Anwesenheit und Wirkmacht Gottes in der Geschichte und sind daher als Quelle göttlicher Selbstmitteilung zu betrachten.“ (Böttigheimer S. 214)

Der Glaube ermöglicht es, „>jene Werte, die heute besonders in Geltung sind<, so zu durchleuchten, dass in ihnen der >göttliche … Ratschluss hinsichtlich der integralen Berufung des Menschen< erkennbar und der >Geist auf wirklich humane Lösungen hin< orientiert werde.  (Gaudium et spes 11)  Dadurch leistet die Kirche einen wichtigen Beitrag zur Verheutigung des Evangeliums sowie zur Humanisierung des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (Böttigheimer S. 216)

zu 2:

Kentenich: „Das spüren wir ja, (die) Kirche von heute sucht auf der ganzen Linie alle geistige Enge zu überwinden. Weg mit Engköpfigkeit! Weg mit Engherzigkeit! Auf der ganzen Linie Weite, Weite, Weite! Ja wir können das heutige Leben und Gären im Raume der nachkonziliaren Zeit überhaupt nicht verstehen, wenn wir nicht dieses Drängen in endlose Weite einkalkulieren.“ (Ansprache Josef Kentenich am 4. September 1967 in Oberkirch, Manuskript)

zu 3:

Charakteristisch ist bei Kentenich, dass er sein Jahrhundert als Zeitenwende deutet. Wenn diese seine Deutung zutrifft, ist sie von nicht zu überschätzender Bedeutung; denn ohne diese Perspektive wird man die Zeichen der Zeit unterschätzen und fehleinschätzen und dadurch zu Fehldeutungen kommen. Aus der Oktoberwoche 1949:

„Wir stehen in einer Zeitenwende von geschichtlichem Ausmaße. Um die Tragweite dieser Behauptung zu verstehen, wollen zwei Fragen beantwortet werden. Die erste lautet: Was besagt das Wort Zeitenwende? Die zweite heißt: Welches sind die Merkmale einer solchen Wende?

Um die Zeitenwende inhaltlich verständlich zu machen, stellen wir sie verwandten Lebensvorgängen … gegenüber: der Zeitenkrise …

Von Krisen spricht man in der Medizin und Psychologie, wenn größere, gefährlichere Spannungen Leib und Seele in Erschütterung bringen; in der Geschichte, wo im gewöhnlichen Lebensrhythmus der Völker größere Veränderungen einsetzen, wo die übliche traditionelle Ordnung bedenklich in Verwirrung gerät. Größere geschichtliche Ereignisse wie Revolution und Krieg werden aus Krisen geboren und haben solche zur Folge. Kommt der geschichtliche Verlauf früher oder später wieder ins alte Geleise zurück, so bedeutet sie bloß einen größeren oder geringeren Ruck – aber keine Wende. Von einer solchen ist die Rede, wenn das Rad der Geschichte sich nicht mehr rückwärts drehen läßt, wenn eine Geschichtsetappe abgeschlossen ist und eine neue beginnt, so daß Seelsorge und Erziehung notwendig neue Wege einschlagen müssen. Weil die Geschichte ein originelles Ganzheitsgebilde ist, sind die Übergänge von einem Zeitalter zum andern nicht unvermittelt. Beide fließen vielfach längere Zeit ineinander über und bewirken deswegen Krisen. Das eine will den Platz nicht räumen und das andere ist noch nicht stark genug, um über Nacht als Sieger auf dem Platze zu bleiben. Auch für Studium und Deutung der Geschichte dauert es oft lange, bis Unterschiede und Gegensätze hüben und drüben sich klar genug herausgebildet haben und eine genauere Charakteristik der beiden Zeitalter möglich ist. Nicht von heute auf morgen laufen die Wasser zu einer reichlich sprudelnden Quelle zusammen. Ähnlich ist es, wo es sich um Entwicklungsstufen im Leben großer Menschen handelt. Deshalb auch die vielen, nicht selten erschütternden Krisen in ihrem Innern. 0ft müssen sie einen langen Prozeß durchmachen, bis sie in vollendeter Reife in die Öffentlichkeit treten, bis sie ein Leuchtturm für ihre Umgebung sein können, ein fruchtbarer Baum, an dessen köstlichen Früchten ungezählt viele sich ergötzen und erfrischen.“ ( S. 38-39)

„Wer ein sicheres Urteil über Wirklichkeit und Art einer Zeitenwende gewinnen will, darf nicht dem blinden Gefühl folgen oder der Suggestion der öffentlichen Meinung zum Opfer fallen. Er muß sich nach zuverlässigen Merkmalen umsehen… Änderungen an einem Lebensgebilde kann nur zuverlässig feststellen und richtig deuten, wer dessen Struktur genauer kennt, wer ihren gottgeprägten Sinn tief erfaßt hat. Das gilt auch von der Geschichte. Deshalb müssen wir erst ihren Sinn kennenlernen. Dann sind wir fähig, ihre Wandlungen zu bewerten sowie Möglichkeiten und Merkmale einer Wende herauszustellen.“ (S. 41)

Eine Zeitenwende ist nach Kentenich dann zu konstatieren, wenn sich das Gottesbild, das Menschenbild oder das Gemeinschaftsbild grundlegend wandelt. Diesen Vorgängen widmet Kentenich unzählige Beobachtungen, Studien und reflektierte Erfahrungen. Hier nur beispielhafte Ergebnisse:
„Von einer geschichtlichen Wende kann und muß man sprechen, wenn ein Menschenbild, das eine Zeit beherrscht hat, sein Gesicht bedeutsam ändert, wenn beispielsweise das intellektualistische dem vitalistischen oder das anthropozentrische dem theozentrischen Bild Platz macht.
Dasselbe ist der Fall, wenn der vornehmlich oder ausschließlich diesseits orientierte Mensch dem jenseitig, übernatürlich eingestellten weicht.“ (S. 49)

Es besteht „ein vielgestaltiges Spannungsverhältnis zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, das vor allem die Völker des Abendlandes seit Jahrhunderten nicht zur Ruhe kommen lassen will. Zwei Strömungen ringen um Lösung des schwierigen Problems: der Individualismus und Kollektivismus. Beide sind extrem, beide verkennen sowohl das Wesen der PersönIichkeit als der Gemeinschaft. Beide führen den Wagen der Geschichte auf eine Sandbank, von der es nur schwer ein Entrinnen gibt…“ „Der Individualismus atomisiert die Gemeinschaft. Der Kollektivismus macht den Menschen zum Herdentier, zu einem leicht ersetzbaren Stück einer Maschine. Beide lösen deshalb in ihrer Art die Gemeinschaft auf.“ (S. 58-59)
Kentenich ist sich mit „den Zeitphilosophen aller Richtungen“ darin einig, dass das Charakteristikum des modernen Menschen seit der Renaissance in der „Lösung des Menschen- und Gemeinschaftsbildes vom geoffenbarten Gottesbild und in einseitiger Konzentration auf das Ich und das diesseitige Leben besteht. Man spricht deswegen von der Säkularisierung des Lebens, von Naturalismus… “ (S. 72)
„Der Geschichtsphilosoph spricht schon von einer Zeitenwende, wenn eines der besagten Bilder einen tiefgreifenden Wandel in der öffentlichen Meinung erlebt. Heute, wo die Seinsrevolution eine totale geworden, wo sie alle drei Bilder bis in die letzten und feinsten Fasern erfaßt und aufgelöst hat, darf und muß man von einer ganzheitlichen, wurzelhaften, von einer grundstürzenden Wende sprechen.
Eine Erneuerungsbewegung, die eine ausgesprochene Zeitsendung hat, darf nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sie muß Lehre und Leben auf letzte Prinzipien zurückführen und unentwegt eine allseitige, möglichst vollkommene Reform erstreben. Mit Bedacht sprechen wir von einer vollkommenen, an die Wurzel gehenden Reform…

Es ist leichter, die schöpferischen Kräfte im Zeitalter des Säkularismus auf ein … greifbares Ziel als auf ein religiöses Ideal zu richten. Man lasse sich jedoch durch vorübergehenden Erfolg nicht täuschen. Bald wird man mit leeren Händen dastehen. Weil unsere Zeit wurzelkrank geworden ist, weil sie auf allen Gebieten eine bis ins Letzte gehende Seinsrevolution heraufbeschworen hat, weil sie von Gottes Idee und Plan vollkommen abgefallen ist, geht sie einem vielfältigen Zerfall entgegen… Darum muß überall um eine vollkommene Neuschöpfung aus letzten metaphysischen Prinzipien gerungen werden. Der vollkommenen Seinsrevolution muß eine vollkommene Seinstreue gegenüber gestellt werden“. (S.61-62)

„…jede Verbindung mit Zeitströmungen, die nicht in gleicher Weise den Geist der Ganzheit erstreben, ist von Übel, ist unnötige Zeit- und Kraftverschwendung und trägt den Keim des Unterganges oder der Verwilderung in sich.“ (S. 64)

zu 4:

Kentenich: „Wir haben „immer unterschieden: Geist der Zeit und Zeitgeist“. (1966)
„Der Zeitgeist weist uns hin auf die negativen Bestrebungen im Raume der Zeit, weist uns darauf hin, … den positiven Gehalt herauszuhören, den wir Geist der Zeit genannt haben. Zeitgeist ist also das Negative, Geist der Zeit die Absicht Gottes.“ (1965)
„Aus dem Zeitgeist … versuchten wir, den Geist der Zeit … abzuleiten.“ (1966)
„Den Zeitgeist überwinden durch den Geist der Zeit.“ (1965)
(1965: Rom-Vorträge; 1966: Exerzitien für Schönstatt-Patres; beides in:  King S. 508)

 


Literatur:

Amor, Christoph J.: Die Zeichen der Zeit als (offenbarungs-) theologischer Erkenntnisort? Eine kleine Problemskizze. In: Kairologie – Zeichen der Zeit. Zeitschrift für Katholische Theologie, Heft 1/2 2014, 32–45.
Böttigheimer, Christoph: Wie handelt Gott in der Welt? Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft. Freiburg / Basel / Wien 2013.
King, Herbert: Gott des Lebens (Joseph Kentenich – Ein Durchblick in Texten, Nr. 7), Vallendar-Schönstatt 2010.

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